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Die dunkle Glocke
Szene 3
1

Jessica erstarrte für einen kurzen Augenblick, sprang dann aber mit der festen Überzeugung, dass etwas nicht stimmte, aus dem Bett. In einer schnellen Bewegung fischte sie ihren Morgenmantel vom Stuhl und war mehr oder weniger angekleidet, als sie schließlich die Haustür erreichte, vor der Eric wie angewurzelt stand.

Eine diesige Atmosphäre beherrschte das Halbdunkel des gerade erwachenden Ortes. Schwaden dichten Nebels schoben sich kniehoch über den Boden des grasbewachsenen Grundstücks ihres Hauses. Die Kulisse wirkte wie die Szene eines billigen B-Movies aus den Siebzigern. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch eine Menschenmenge, die sich auf dem Rasen bis hin zum Gehsteig versammelt hatte. Im fahlen Licht des Morgens, der die Sonne noch vor dem Betrachter verbarg, wirkten sie wie Zombies, die darauf warteten, auf einen stillen Befehl hin ihr Heim zu stürmen. Doch es geschah nichts. Niemand regte sich und niemand sprach.

Jessica schätze, dass es mindestens fünfzig Personen waren, die sie mit einer gewissen Apathie, aber auch einem unterschwelligen inneren Groll anstarrten. Sie erkannte einige von ihnen, sah einen Polizisten in Uniform, eine Ärztin in weißem Kittel und Bob Flowers, den Inhaber des örtlichen Drugstores. Schließlich war es Eric, der sich vom ersten Schrecken erholt hatte und nun das Wort an die Menschenmenge richtete. Er wandte sich an einen Mann, großgewachsen, in Jeans und dunkler Lederjacke, der ihm am nächsten Stand.

»Würden sie mir erklären, was dieser Auflauf zu bedeuten hat?«

Eric sah den Mann erwartungsvoll an und wartete auf eine Antwort. Doch sein Gegenüber blieb stumm. Er schien Erics Worte nicht einmal wahrgenommen zu haben. Keine Regung war auf seinem Gesicht zu erkennen, kein Furchen der Stirn, kein Zucken im Mundwinkel, nicht einmal ein Blinzeln. Er stand nur da, wie eine lebende Statue.

»Das ist unheimlich.«, flüsterte Jessica, trat dann aber selbst in den Vordergrund und erklärte: »Wenn sie uns etwas mitteilen möchten, haben sie jetzt die Chance dazu. Falls nicht, wünschen wir ihnen einen schönen Tag. Damit drehte sie sich um und raunte Eric im Vorbeigehen zu: »Komm! Mal sehen, was passiert.« Eric schloss langsam die Tür und erwartete, dass ihn jemand mit Gewalt daran hinderte. Doch nichts geschah. Daher folgte er Jessica in den Wohnraum, von dem aus sie die unheimliche Szenerie durch die Jalousien beobachten konnten. Fünf Minuten lang standen die Menschen, Bewohner von Blackridge Falls, einfach nur da. Dann wandte sich der Erste ab und ging davon. Ein weiterer folgte, ein Dritter, ein Vierter und schließlich zerstreuten sich alle nach und nach in den Straßen des Ortes.

An ihrem Verstand zweifelnd, standen Jess und Eric noch eine ganze Weile da und betrachteten die Wiese, die Ort dieses bizarren Schauspiels gewesen war. Keiner von ihnen sprach. Dann sahen sich beide kurz und bedeutungsschwanger an, drehten dem Fenster kopfschüttelnd den Rücken zu und begannen zögernd ihre Morgenroutine – begleitet vom fernen Dröhnen der Glocken.

Hintergrundfoto: Rob Potter
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