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Die dunkle Glocke
Szene 5
1

Randolph Cunnings betrieb einen kleinen Naturkostladen in einer versteckten Seitenstraße von Blackidge Falls. Eigentlich war die Lage des Geschäfts denkbar ungünstig, denn Laufkundschaft verirrte sich nur selten in diesen Winkel der Innenstadt. Dennoch konnte Mister Cunnings nicht über Kundenmangel klagen. Der beinahe 70-jährige Händler war so etwas, wie eine Institution im Ort, auch dank seines Markenzeichens, einer ausnehmenden Freundlichkeit, die er stets in einem breiten Grinsen zur Schau trug.

Jessica stand vor der Auslage auf dem Gehsteig und inspizierte eine Ansammlung von Äpfeln, als Mister Cunnings neben sie trat.

»Heute frisch vom Markt.«, proklamierte er fröhlich, griff nach einer besonders roten Frucht und biss hinein. »Schauen sie, wie saftig das Fruchtfleisch ist. Kosten sie!« Bei diesen Worten zauberte er ein Messer aus seiner beigefarbenen Schürze, schnitt ein großes Stück heraus und reichte es ihr. Jessica nahm es lächelnd entgegen und schob es in den Mund. Der Apfel schmeckte köstlich.

»Es ist schön, wenn jemand mit soviel Leidenschaft seine Arbeit macht.«, sagte sie kauend und wählte vier besonders ansprechende Exemplare aus dem Angebot aus.

»Wissen sie«, antwortete er nachdenklich. »Wenn mehr Menschen mit Spaß an ihre Arbeit gehen würden, dann wären sie vermutlich auch netter zueinander. Denn Freude an der Arbeit macht zufrieden. Unzufriedenheit macht unglücklich.« Für Jessica klangen diese Worte, als hätte der alte Mann ihr genau in diesem Augenblick die Augen für etwas geöffnet, das ihr bisher verborgen geblieben war. Dabei handelte es sich nur um eine unumstößliche, beinahe selbstverständliche Tatsache.

»Unzufriedenheit macht unglücklich.« Der Satz klang in ihrem Kopf nach und sie musste an das seltsame Gefühl denken, das sie beschlichen hatte, als die Menschensammlung auf ihrem Grundstück erschienen war. In diesem Moment hatte sie kurz daran gedacht, Blackridge Falls wieder zu verlassen, weil die Situation unangenehm und beängstigend gewesen war. Der Vorfall hatte sie unzufrieden gemacht.

Ganz im Gegensatz dazu empfand sie die Unterhaltung mit Mister Cunnings als sehr angenehm und erfrischend. In lockerem Tonfall erwiderte sie daher: »Wahre Worte. Aber manchmal führen auch ganz seltsame Umstände zu Unzufriedenheit. Erinnern sie sich an das Glockengeläut vor ein paar Tagen?« Jess blickte ihn an, während sie ihm einen Papierbeutel mit der ausgewählten Ware reichte. In Mister Cunnings Gesicht vollzog sich mit einem Mal eine Wandlung. Das breite Grinsen verschwand und machte einer misstrauischen Miene Platz. Seine Augen huschten umher, als suchten sie nach einem Ausweg aus einer Bedrängnis und sein Körper schien in sich zusammenzufallen.

Mit zusammengebissenen Zähnen antwortete er tonlos: »Ich habe keine Glocken gehört.« Obwohl Jessica seine Verwandlung aufgefallen war, gab sie zurück: »Sie haben doch sicher diesen dunklen Ton gehört. Er war so durchdringend, dass man ihm eigentlich gar nicht entkommen konnte.«

Ohne darauf einzugehen wandte er sich mit einem plötzlichen Ruck ab und steuerte auf die Kasse zu. Dort tippte er mit steinernem Gesicht etwas ein und nannte Jessica, ohne sie anzuschauen, mit hohler Stimme den zu zahlenden Betrag.

Zunehmend verwirrt von der plötzlichen Veränderung fragte sie: »Was ist denn los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sein umher huschender Blick fing sich nun doch wieder und richtete sich steinern, beinahe feindlich auf sie: »Hier gibt es keine Glocken. Und jetzt verschwinden sie.«

Hintergrundfoto: Rob Potter
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