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Die Rückkehr der Vögel

Der Mann bewegte sich im Rhythmus eines lautlosen Gesangs. Es war der Gesang seiner Ahnen, der sich in ihm ausgebreitet zu haben schien und der ihn zu beinahe ekstatischen Zuckungen veranlasste. Immer wieder ließ er sein Gesicht in gebeugter Haltung knapp über die trübe Wasseroberfläche gleiten und drehte sich dabei wiegend hin und her. Dann richtete er sich erneut kerzengerade auf, reckte die Arme in den Himmel und breitete sie aus, als wolle er das ganze Firmament umarmen.

Sein hochgewachsener, schlanker Körper, an dem er einen kunstvoll gebundenen Lendenschurz trug, war vollständig bedeckt von einer schmutzig-weißen Farbe, die auch das Wasser nicht abzulösen vermochte. An vielen Stellen war die Bemalung unterbrochen von feuerroten Zeichen, die mal Kreise, mal Wellen darstellten. Einige dieser Zeichen erinnerten an die Silhouetten von Vögeln im Flug, was auch Sinn ergeben würde. Denn er war hier, um die Rückkehr der Vögel zu feiern.

Er stand in einem mit milchigem Wasser gefüllten Becken, das sich im Laufe von Jahrtausenden aus einem nicht enden wollenden Vorhang aus Wassertropfen gebildet hatte. Stalagmiten waren so zu einer undurchdringlichen Wand angewachsen und der beständige Strom neuen Wassers aus den Tiefer des Gesteins füllte die natürliche Wanne.

Ein leichter Dunst hing in der Luft und legte sich wie ein Film auf einen Mann im Hintergrund, der wie ein lebender Anachronismus in dieser prähistorischen Umgebung wirkte. Er schmeckte das Salz auf seinen Lippen und spürte das Brennen des Nebels in seinen Augen. Doch er blickte gebannt auf den tanzenden weißen Schamanen, dessen Auf und Ab sanfte Wellen erzeugten, die lautlos gegen die Stalagmiten schwappten. Der zeremonielle Tanz verwandelte sich in eine Abfolge langsamer und sehr bemessener Bewegungen, nur um dann zu einem intensiven Ausbruch zu werden, der das Wasser in die Höhe spritzen ließ.

Der Mann im Hintergrund war eingewiesen worden. Man hatte ihm gesagt, dass nur dieser Ort in Frage käme, um sie freizulassen. Man hatte ihn gewarnt, sich unbedingt unauffällig zu verhalten und nicht zu versuchen, mit den Eingeborenen zu kommunizieren. Man hatte ihm jedoch nicht gesagt, dass er ebenfalls ins Wasser steigen musste. Doch er hatte es getan und es hatte keiner Aufforderung bedurft. Es fühlte sich selbstverständlich an.

Gebannt beobachtete er im noch ungetrübten Gegenlicht des Drachenmauls, das sich aus Stalagmiten, Stalaktiten und zerklüfteter Höhlendecke bildete, das Treiben des fremdartigen Mannes, seine beherrschten, fließenden Bewegungen, die zeitweise dem Ausbreiten mächtiger Schwingen glichen. Dann hielt der Eingeborene inne und wandte sich ihm zu. Das eingefärbte Gesicht ließ keine Regung erahnen, waren seine Züge doch ebenfalls durch groteske Zeichnungen und Wülste unkenntlich gemacht. Ein grob gezeichneter, leicht nach unten gerichteter, schwarzer Mund, der weit über die Wangen hinaus ragte, seltsame Wucherungen, die wie krankhafte Beulen von Kinn und Wangenknochen abstanden, glühend rote Augenränder, blutigen Tränen gleich, die ihren Gegenüber fixierten und ein strahlend roter Haarschopf, der sich lediglich über die Mitte des Schädels zog, ergaben ein bizarres, beängstigendes Bild.

Mit einer einladenden Geste wurde der Mann im Hintergrund aufgefordert, näher zu kommen. Und er tat, wie ihm geheißen. Vorsichtig stapfte er auf den Ureinwohner zu. Er spürte den Schlick, der sich zwischen seine nackten Zehen drückte, fühlte die Wärme des Wassers und das Kribbeln des Salzes auf der Haut. Je geringer die Distanz zu seinem fremdartigen Gegenüber wurde, desto unwirklicher erschien ihm der Augenblick. Lichter und Schatten begannen zu verschwimmen. Die Strahlen der Sonne entwickelten ein Eigenleben und suchten sich selbständig einen Weg in jeden Winkel der Höhle. Sie umgingen dabei Vorsprünge und Nischen und erfüllten die gesamte Halle mit einem Leuchten. Die sanften Wellen des Wassers wanderten mit einem Mal in ungewöhnlicher Gleichmäßigkeit über die Oberfläche. Beim Auftreffen auf die Beckenwand erzeugten sie so einen flüsternden Rhythmus, der sich im Bewusstsein festsetzte und eine hypnotische Wirkung entfaltete.

Nun tanzte auch der Mann im Hintergrund, ungelenk noch, aber voller Inbrunst und Hingabe. Der Schamane bedeutete ihm, sich ihm anzuschließen. Gemeinsam bewegten sie sich durch das milchige Nass bis an den Rand des natürlichen Beckens. Sich wiegend zum Klang des Wellenschlags blickten sie hinaus aus der zerklüfteten Grotte auf ein grünes Meer tief unten. Eine Kakophonie aus den verschiedenartigsten, unbekannten Lauten drang zu ihnen hinauf. Deutlich war zwischen den übrigen Urwaldgeräuschen der Gesang von Vögeln zu vernehmen, ein Klang, den diese Welt schon längst vergessen hatte. Denn viele Jahrhunderte hatte es sie nicht gegeben und nun waren sie wieder da.

Der Mann im Hintergrund wandte sich um und sah zurück zu den Käfigen, die auf einem natürlichen Steg aufgereiht waren. Unsichtbare Hände entriegelten nun einen nach dem anderen und ein nicht enden wollender Schwarm vielfarbiger prächtiger Vögel zog in gemeinschaftlicher Eintracht durch die Höhle. Einige nahmen im Tiefflug einen Schluck des Jahrtausende alten Wassers und schlossen sich dann wieder der Gemeinschaft an.

Der Mann sah ihnen nach und sein Tanz wurde intensiver. Auch der Eingeborene schien sich an dem Anblick zu erfreuen, denn erstmalig gab er fremdartige Laute von sich. Der Schwarm sammelte sich hoch über dem grünen Teppich und bildeten eine wabernde Wolke, die sich amöbengleich ausdehnte, wieder zusammenzog und mal hierhin und mal dorthin schwebte. Der Mann im Hintergrund versank in diesem Schauspiel. Seine Umgebung verlor jegliche Bedeutung. Für ihn zählte nur noch dieses Beispiel für Freude und Leichtigkeit. Es war, als wollten die Vögel ihm etwas mitteilen, eine wichtige Botschaft, die sie in kryptischen Zeichen aus Wolkenformationen übermittelten. Und erstmals in seinem Leben verstand er. Er verstand, was bisher falsch war. Die Vögel öffneten ihm die Augen, den sie sprachen: Wenn Du frei bist, lebe!

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